Sigle, Zeichen Hexenküche

Zweites Hexenküchengespräch mit dem Zabriskie Buchladen

Fragen zu Hexerei und Magie, zu Natur und Kultur sowie Spiritualität an den Zabriskie Buchladen

Konstanze: Lange Zeit habe ich nicht genau gewusst, was sich hinter dem Namen „Zabriskie“ verbirgt: Eine Galerie? Ein Kunstort? Ein Zauberort? Eine Hexenküche? Oder ein Buchladen?

Eins der ersten Bücher, die ich bei Euch entdeckte, war das von Timothy Morton: „Humankind. Solidarity with nonhuman people“. Als ich das Zitat las, das sich auf seinem Rücken befindet – „I read a lot of his books and I like him a lot“ Björk – hab ich es sofort gekauft.

Zu der Zeit hatte ich gerade angefangen über die Verbindung von Posthumanismus und Magie nachzudenken. Unter dem Titel Postmagicscience begann ich über die Verknüpfungen von Theorien aus den Gender Studies mit dem sogenannten neuen Materialismus zu schreiben, hatte Karen Barad gelesen und mit Donna Haraway weitergesponnen und kam – unter anderem auch in Gesprächen mit Hauke Heumann – darauf, dass sich da auch eine Öffnung auftut, hin zu spirituellem Denken, zu Spinoza, zu queerfeministischer Spiritualität, Hexerei und Magie…. und dann hab ich Euch entdeckt – und viel bei Euch eingekauft und wir haben uns auch immer wieder viel unterhalten. Ihr seid so eine Art Magic Box (der Zauberladen in Buffy) für mich gewesen – seid es noch immer.

Ich hab‘ dann bei Euch z.B. David Abram „Im Bann der sinnlichen Natur. Die Kunst der Wahrnehmung und die mehr-als-menschliche Welt“, aber auch The occult. Witchcraft and magic“, „Earthsea” von Ursula K. LeGuin, „Okkultes Brevier” aus dem Matthes & Seitz Verlag und den Ausstellungskatalog „Waking the witch” gekauft – um nur ein paar der Bücher zu nennen, die von Euch zu mir gewandert sind.

Hauke und ich haben im letzten Jahr beschlossen, Gespräche mit Menschen zu führen, die sich auch mit Magie, Hexerei und queer-feministischer Spiritualität beschäftigen und diese aufzunehmen oder aufzuschreiben.

Heute sprechen wir mit Lorena und Jean vom Zabriskie Buchladen in Kreuzberg.

Hauke: Nun sind wir bei Euch im Buchladen. Und wir würden Euch gern fragen, wie es angefangen hat, mit diesem Buchladen und wie ihr zu dieser spezifischen Auswahl Eurer Bücher gekommen seid. Es sind ja auch nicht alles Hexen und Zauberbücher, müssen wir hier mal kurz einwerfen.

Lorena & Jean: Also, es kamen ein paar Dinge zusammen, die dazu geführt haben, dass wir eine Buchhandlung eröffnet haben. Zum einen wollten wir versuchen, mal jobmäßig etwas eigenes zu starten, und etwas zu machen, das uns total begeistert, und da ganz unser eigenes Ding zu machen. Und dann kam dazu, dass wir bei unseren Buchhandlungsbesuchen immer etwas enttäuscht waren, weil bestimmte Themen, Autor*innen, Verlage – die uns besonders interessierten – unterrepräsentiert waren. Und dann haben wir eins mit dem anderen zusammen gerechnet. Die Themen, die in unserer Buchhandlung zu finden sind, sind nur solche, die uns auch persönlich interessieren. Subkulturen und Gegenkulturen, Utopien, Tiere, Pflanzen, Ökologie, Nature Writing, DIY und Selbstversorgung, Musik und Sound, Müßiggang, Gehen und Psychogeografie, Rauschkunde, ungewöhnliche Romane und Lyrik, und eben auch Feminismus, Gender, Magie und Okkultes. Zabriskie ist dadurch so eine Art persönliche Bibliothek, nur mit dem Unterschied, dass die Bücher gekauft werden können.

Hauke: Warum nennt ihr Euch “Zabriskie Buchladen für Natur und Kultur”?

Lorene & Jean: Der Name ist über ein paar Ecken zu uns gekommen. Wir heißen beide nicht Zabriskie mit Nachnamen, auch wenn manche das vielleicht denken. Wir haben nach einem Namen gesucht, der gleichzeitig nicht einengend ist, und aber auch bestimmte Konnotationen hat. Also für die Leute, die den Film “Zabriskie Point” von Michelangelo Antonioni kennen. Daher kommt der Name nämlich. Ein Film über die amerikanische Counterculture der 60er und 70er Jahre. Themen, die in diesem Film auftauchen, sind auch in unserem Laden zu finden: Wildnis, Revolten, Rausch, Psychedelik … der Film ist nach dem Zabriskie Point im Death Valley benannt, der ist wiederum nach einem polnischen Bergbauunternehmer benannt, der im 19. Jahrhundert dort ein Mineral namens Borax abgebaut hat. Das Natur und Kultur im Untertitel ist wegen der thematischen Auswahl. Wir haben aber schon mal überlegt, den Namen zu ändern in NaturKulturen, um keine Trennung zwischen diesen beiden Feldern zu suggerieren.

Konstanze & Hauke: Könnt ihr Eure Themen einmal vorstellen und dazu erzählen, weshalb ihr Euch für diese Themen entschieden habt, was ihr an diesen so interessant findet?

Lorena & Jean: Wir sind beide immer schon interessiert gewesen an Weltbildern und Lebensentwürfen, die dem destruktiven Kapitalismus, einem gnadenlosen Wirtschaftssystem und einer auf Dualitäten fokussierten Philosophie etwas Positives, Verbindendes, Inkludierendes, Liebevolleres und auch Verzauberteres entgegensetzen. Ein wildes, aber zartes Denken. Und Da fallen dann z.B. animistische Sichtweisen, ein respektvoller Umgang der Menschen untereinander und mit den nicht-menschlichen Lebensformen, und auch ein magischeres Weltbild hinein, das nicht das rationale Denken als alleingültige Erklärungsweise betrachtet. Weg von Descartes, und hin zu Robin Wall Kimmerer sozusagen. Wir waren beide, bevor wir Zabriskie eröffnet haben, Akteur*innen in der Berliner Subkultur, und der Beginn unseres Interesses am kulturellen Underground fing schon früh an, mit 14, 15 Jahren als Jugendliche. Das Interesse an Nature Writing und animistischer Philosophie kam etwas später, unter anderem beim Lesen von Gary Snyders „Practice of the Wild“. Snyder ist ja eine sehr wichtige Figur sowohl für die US-Counterculture gewesen, als auch für die Ökologie-Bewegung. Das jugendliche Interesse für Magie und Okkultismus hat wohl etwas mit der katholischen Erziehung zu tun … das, was verboten ist, ist natürlich ganz besonders spannend. Und später kam hinzu, dass Magie spannende Dimensionen eröffnet.

Konstanze: Ist Magie denn das Scharnier zwischen Natur und Kultur? Den Hexen wurde ja immer vorgeworfen, dass sie sich die Natur unterwerfen und zu eigen machen und gegen die Menschen wenden.
Und dann wurden die Hexen selbst unterworfen und mit ihnen alle Frauen und in ihnen – mit der Aufklärung – die Natur.
Sind eure Bücher zu Magie, über Magie, Hexerei und Okkultismus eine Art Scharnier zwischen Natur und Kultur? Erfüllen diese Themen eine Funktion für Euch? Oder anders gefragt, weshalb und wie kamen diese Themen in Euren Buchladen?

Lorena & Jean:
Magie ist ein Scharnier, auf jeden Fall. In den animistischen Gesellschaften gibt es ja diese starke Verbindung zur nicht-menschlichen Welt, zu Tieren, Pflanzen, zu Steinen, zu Wasser oder Wind. Da sind Natur und Kultur keine voneinander getrennten Welten. Und weil das westliche, dualistische rationale Denken damit nichts anfangen kann, oder es sich nicht erklären kann, wird es als abergläubisch und naiv dargestellt. Du hast es ja gerade gesagt: vor allem seit der Aufklärung bekommt diese Weltsicht den Vorrang. Aber glücklicherweise konnte sich die Counterculture der Hexen, Druid*innen und Schaman*innen trotz aller Verfolgung und Unterdrückung irgendwie zumindest teilweise in unsere Zeit retten. Ja, das magische, animistische Denken ist auf jeden Fall ein Scharnier, oder ein Entanglement von Natur und Kultur. Und bekommt deshalb auch einen festen Platz in unserem Buchsortiment. Und es gibt ja auch Personen wie zum Beispiel die Mystikerin Hildegard von Bingen, die gar nicht so weit weg ist von Animismus, aber sich als Christin sah. Das ist auch sehr spannend.

Hauke: In England ist das Okkulte viel selbstverständlicher präsent. Eine Freundin von mir, die in England lebt, hat sich zur Kräuterberaterin ausbilden lassen.

Lorena & Jean: Ja, das stimmt. Die Bücher zu okkulten Themen und Magie, die wir im Laden haben, sind größtenteils englischsprachig. In Großbritannien gibt es gerade ein richtig großes Revival von heidnischen Weltbildern und Folk Magic. Und vorchristliche Folklore, Traditionen und Rituale leben wieder stark auf. Und zum Glück hat das – zumindest unserem Gefühl nach – keine nationalistische, völkische Szene für sich okkupiert, eher im Gegenteil. Es gibt zum Beispiel so tolle Verlage wie Ignota, die Queerness, Magie und poetisches Schreiben zusammendenken. Und verschiedene Zines, wie Hellebore, Weird Walk und Rituals & Declarations, die in diese Richtung gehen.

Konstanze: Ihr habt ja auch (vor Corona vor allem) Spaziergänge organisiert: Könnt ihr diese einmal beschreiben? Die Spaziergänge durch Kreuzberg, zu Kräutern? Pilzwanderungen? Könnt ihr das Konzept bzw. die Idee dahinter einmal erzählen? Gern auch anekdotisch, was Euch da Schönes passiert ist. Wie verbindet ihr Stadt, Land, Natur Wissenschaft und Kunst?

Lorena & Jean:
Wir vermissen die Spaziergänge sehr. Und hoffentlich werden wir im kommenden Jahr damit weitermachen. Die Idee zu den Vogelspaziergängen kam bei einer Geburtstagsparty in der Nähe von Chorin, wo wir den Journalisten und Biologen Christian Schwägerl kennengelernt haben. Er hatte auf diesem Geburtstag einen Eisvogelspaziergang organisiert, und wir haben aus einem Buch von Anita Albus etwas über Eisvögel gelesen. Da entstand die Idee, etwas in der Stadt zusammen zu machen. Am Anfang waren wir größtenteils im Kiez unterwegs, sind am Kanal entlang gelaufen, waren in der Hasenheide oder am Urbanhafen. Später gab‘s dann auch Exkursionen ins Umland oder an den Stadtrand, zum Beispiel zum Tegeler Fliess, zu den Karower Teichen, zu den Kranichen am Rietzer See oder zu den Großtrappen im Havelland. Uns haben diese Spaziergänge eine neue Welt eröffnet. Klar, wir haben auch vorher schon Vögel wahrgenommen – aber durch die Spaziergänge wurde die Aufmerksamkeit nochmal deutlich geschärft. Wir nehmen die Vögel wahr, aber sie haben uns schon 100 Meter vorher wahrgenommen. Wir werden ständig von diesen Lebewesen genauestens beobachtet.

Bei den Heilkräuterspaziergängen war es ähnlich. Unser Freund Daniel ist Naturheilkundler, und hat uns immer wieder mal mit auf eine Kräuterrunde genommen. Und da kam die Idee auf, mal zu schauen, was da eigentlich in unserem Kiez so alles wächst. Wir sind beim ersten Spaziergang nur einmal um den Block gegangen, und haben bestimmt 20 oder 30 unterschiedliche Heilpflanzen entdeckt. Von der Brennnessel bis zur Goji-Beere! Mit Daniel haben wir dann auch mal eine Pilzwanderung in der Schorfheide oder ein Wurzel- und Pilzwochenende in der Uckermark gemacht. Wir können diese Spaziergänge nur empfehlen, ob bei uns oder bei anderen. Das ist richtige Bewußtseinserweiterung, ganz ohne Hilfsmittel.

Durch die Spaziergänge in der Stadt können wir Stadtbewohner*innen sehen, dass das Wilde direkt unter uns lebt. In Gestalt von Vögeln, die ihre Nester in Gebüschen oder auf Bäumen in unseren Hinterhöfen bauen, Pflanzen, die aus den kleinsten Betonritzen wachsen, Flechten auf Häuserwänden, Insekten auf unseren Balkonen und in unseren Wohnungen. Die Artenvielfalt in Städten ist ja in den vergangenen Jahrzehnten enorm gewachsen. Städte sind da teilweise zu Refugien geworden, weil die Agrarwüsten vielen Lebewesen nichts mehr bieten.

Du hast gerade die Kunst angesprochen. Wir haben auch viele Künstlerpublikationen zu den vorhin genannten Themen – weil eine künstlerische Herangehensweise Ebenen eröffnet, die die Wissenschaft nicht hat. Kunst ist da ein bisschen vergleichbar mit Magie – sie spricht auch Dimensionen an, die dem rein wissenschaftlich Rationalen nicht zugänglich sind. Etwas Spielerisches, Intuitives, das die Seele ins Spiel bringt.

Hauke: Geschieht gerade ein Wandel im Bewusstsein über die Trennung zwischen Natur und Kultur? Glaubt ihr, dass sich diese Trennung, zwischen diesen Wissensgebieten immer mehr auflöst?

Lorena & Jean:
Diese Trennung zwischen Kultur und Natur, zwischen dem Menschen und „dem Rest der Welt“, zwischen Geist und Körper, männlich und weiblich, Zivilisation und Wildnis, undsoweiter, diese vermeintliche Trennung ist ja die Ursache für fast alles, was im Moment schief läuft. Und ja, wir glauben zu bemerken, dass es mehr und mehr Menschen bewußt wird, dass diese Trennung nur eine vermeintliche ist. Wir sitzen alle miteinander im gleichen Boot, sozusagen.

Wir hoffen, dass da zumindest in Teilen der Bevölkerung ein Bewußtseinswandel stattfindet. So ganz können wir das nicht sagen, weil wir uns hier in Kreuzberg ja auch ganz schön in einer Art Bubble befinden. Aber dass zum Beispiel das Buch „Das geheime Leben der Bäume“ von Peter Wohlleben Ewigkeiten die Spiegel-Bestsellerliste angeführt hat, ist vielleicht ein Zeichen. Wir erwähnen das Buch, weil es da ja auch um Interconnectedness zwischen verschiedenen Arten geht. Und um das Überlappen von verschiedenen Lebensformen. Was auf jeden Fall toll ist, ist dass solche Autorinnen und Autoren, die diese starren Trennungen aufzubrechen versuchen, immer mehr Aufmerksamkeit bekommen. Lynn Margulis, Donna Haraway, Robin Wall Kimmerer, Andreas Weber, und viele mehr. Die vermeintliche Trennung in so vielen Bereichen verursacht so viele Schmerzen – und die Auflösung dieser Trennungen mildert diese Schmerzen oder lässt sie sogar verschwinden. Und das ist etwas, wonach wir alle suchen – etwas, das Schmerzen lindert. Diese Idee der Trennung spukt teilweise auch in den Köpfen von Leuten, die sich dessen vielleicht gar nicht so bewußt sind. Zum Beispiel die Leute, die Nationalparks anlegen, und dann entscheiden, dass die indigenen Menschen aus diesen Parks vertrieben werden sollen, damit die Parks vom Menschen unberührt sind. Das ist total der Quatsch! Diese indigenen sehen sich als Teil der sie umgebenden Welt, und deshalb gehen sie auch respektvoll mit ihr um. Und dann gibt es ja zum Beispiel das Süßgras. Ihr kennt ja Robin Wall Kimmerers Buch Braiding Sweetgrass. Dort zeigt sie, dass das Süssgras am besten gedeiht, wenn es vom Menschen geerntet wird – mit Respekt. Wenn es über mehrere Jahre nicht geerntet wird, verschwindet es.

Konstanze: Kann man sich eigentlich noch mit Magie beschäftigen, wenn es so was gibt wie die Corona Leugner/Leugnerinnen?

Lorena & Jean: Aber gerade deshalb sollten wir das tun! Wie wir vorhin gesagt hatten, Magie hat vor allem etwas mit Verbundensein, mit Offenheit zu tun. Und solche Leute, die gegen eine Verbundenheit und gegen Öffnung sind, und somit irgendwie auch gegen eine solidarische Gemeinschaft, haben das Prinzip von Magie nicht verstanden.

Konstanze: Welches emanzipatorische Potential liegt Eurer Meinung nach in der Auflösung der starren Trennung von Natur und Kultur?

Wie vorhin schon gesagt, durch die Auflösung der Trennung erreichen wir ein Verbundensein, welches den Trennungsschmerz überwindet und somit glücklich macht. Auch wenn uns der Kapitalismus mit seinem Konsumzwang suggeriert, dass eine Ichichich-Mentalität und Turbo-Individualismus geil ist, stimmt das überhaupt nicht. Wir sind Teil eines großen Ganzen, und durch eine Begegnung auf Augenhöhe mit den anderen Lebewesen und Entitäten entsteht eine Verbundenheit, die millionenmal geiler ist als das Gefühl von „Ich bin der oder die Beste, ich bin besser als die anderen“.

Konstanze: Was gewinnen wir, wenn Natur als nicht rein und einfach nur positiv wahrgenommen wird?

Lorena & Jean: Da sprichst du etwas sehr Interessantes an. Es gibt bei ein paar lateinamerikanischen indigenen Gemeinschaften die Idee von Pachamama. Diese Idee wurde dann von Missionaren christianisiert, und in „Mutter Erde“ umgewandelt – eine liebevolle, rein wohlwollende mütterliche, alles für ihre Kinder hergebende Entität. Die ursprüngliche Pachamama, zum Beispiel wie die Inca sie sahen, war aber nicht rein wohlwollend. Wenn sie nicht respektiert wurde, konnte sie schreckenerregend wild und zerstörerisch werden. Die Erde nicht als nur benevolente Entität zu sehen, macht also, dass die Menschen respektvoller mit ihr umgehen. Das fällt uns einmal zu dieser Frage ein. Und zur Reinheit:
Das ist in gewisser Weise absurd. Wir atmen die ganze Zeit etwas ein, was Pflanzen ausgeatmet haben. Wo fangen wir an und wo hören die Pflanzen auf? Wir haben in und auf unserem Körper Milliarden von Mikroorganismen, ohne die wir gar nicht leben könnten. Ein ganz „reiner“ menschlicher Körper ohne diese anderen Lebewesen würde sterben. Reinheit ist eine Illusion. Das Konzept von Reinheit beruht auf der Idee der vermeintlichen Trennung. Wenn wir also das Konzept von Reinheit hinter uns lassen, stehen uns unendlich viele mögliche, tolle, spannende Verbindungsmöglichkeiten offen!

Hauke: Ich war immer sehr christlich, wollte Pfarrer werden, war dann so voll anthroposophisch und für mich als evangelischer Typ war das so wie minimal Musik und ein Megaflash, dieses anthroposophische Denken.

Ich habe dann viel Steiner gelesen und dann, wie ich in Berlin ankam, Foucault und Deleuze. Und auf dem Weg in die Kirche ich als queere Person, da dachte ich, das geht nicht. Das reibt sich so, die Anthroposophie mit ihrem Rassismus und Sozialdarwinismus…

Kennt ihr das auch, dass es manchmal solche Reibungen gibt, in Denksystemen, in denen ihr zum einen etwas Neues Positives entdeckt und dann auf der anderen Seite jedoch Ideologien, die ihr ablehnt? Wie geht ihr damit um: Für Euch und mit Euren Büchern? 

Lorena & Jean:
Also, wir haben als weltoffene und inkludierende Buchhandlung bei uns die klare Regel, dass wir Bücher, in denen nationalistisches, rassistisches, antisemitisches, chauvinistisches oder anderweitig diskriminierendes Gedankengut propagiert wird, nicht ins Programm aufnehmen. Ist ja klar. Und bei Büchern, die inhaltlich keine solche Tendenz haben, aber von einem Autor oder einer Autorin geschrieben wurden, die oder der eine diskriminierende Gesinnung hat, würden wir ein solches Buch aufnehmen, wenn es mit einem erklärenden, kritischen Vorwort versehen ist. Es gibt da zum Beispiel „Mensch und Erde“ von Ludwig Klages, eine Art Gründungstext für die deutsche Ökologiebewegung, der vor einigen Jahren bei Matthes & Seitz neu aufgelegt wurde. Da gibt es im Nachwort eine kritische Auseinandersetzung mit Klages Antisemitismus. Wenn eine solche Erklärung nicht im Buch zu finden wäre, würden wir es nicht in den Laden stellen. Aber vielleicht schon aus Interesse selbst mal lesen. Es ist ja wichtig, dass man solche Schriften zumindest teilweise auch  kennt. Das ist ein wichtiges Thema. Zum Beispiel in England wird der Roman „Tarka. The Otter“ vom Autor Henry Williamson von vielen als eines der schönsten Nature Writing Werke überhaupt gesehen. Williamson hatte eine enge Beziehung zur British Union of Fascists, einer Partei, die den Nationalsozialismus gut fand. Das findet man aber im Text selbst nicht wieder. Wir haben das Buch nicht im Programm, weil wir keine Edition bis jetzt gefunden haben, die einen kritischen Essay voranstellen würde.

Hauke: Im neuen Aachener Kunstverein ist gerade eine Ausstellung von der Frankfurter Hauptschule, die sich mit der Verbindung von neuer Rechter und Esoterik auseinandersetzt und da habe ich aus dem Ankündigungstext ein Zitat: Sie fragen in ihrem Ankündigungstext, ob der Hang zum Spiritualismus heute eine postkoloniale Antwort auf den westlichen Universalismus der Aufklärung ist? Das knüpft noch mal ein bisschen an das Süssgrass Thema an.

Lorena & Jean: Das ist ja wieder das, worüber wir am Anfang gesprochen haben. Der Mensch besteht aus zahlreichen Komponenten, nicht nur aus der Ratio, die meint, es wäre wichtig, dass alles durch logische Gedanken erklärt werden kann. Die anderen Komponenten, Körper, Seele und das Bedürfnis nach Staunen und nach Spiritualität sind genauso wichtig. Wir brauchen das, was Silvia Federici als Titel eines Buches gewählt hat: Ein Re-Enchanting of the World. Auf deutsch: eine Wieder-Verzauberung der Welt. Einfach nur Staunen, und nicht schon wieder rational erklären wollen. Es ist ok, und es ist schön, zu staunen. Das fehlt den Menschen sicherlich!

Konstanze: Anders formuliert: Hat die vermehrte Akzeptanz mit spirituellen Themen etwas damit zu tun, dass das durch den Kolonialismus ausgelöschte andere Wissen (Hexerei in Europa (vgl. Federici Caliban und die Hexe und Wissen der indigenen Bevölkerungen in Afrika, Südamerika und Indien) so wieder reintegriert werden soll? Als eine Art Wiedergutmachung?

Lorena & Jean: Hmm, Wiedergutmachung ist eine wichtige Sache, aber wahrscheinlich hat diese vermehrte Akzeptanz eher etwas damit zu tun, dass tatsächlich erkannt wird, dass dieses alte Wissen uns weiterhelfen kann, uns hilft, aus der Sackgasse zu kommen. Ein gleichzeitig alter, aber auch frischer neuer Blickwinkel.

Konstanze & Hauke: Noch einmal anders formuliert: Kolonialismus hat Spiritualität und Irrationalität vernichtet. Ist die heutige Hinwendung zu Spirituellem eine Reaktion darauf?

Lorena & Jean:
Also, die Irrationalität und Spiritualität sind ja nicht verschwunden, oder vernichtet worden. Aber sie wurden sehr stark in den Hintergrund gedrängt, und dadurch fehlt vielen Menschen ein wichtiger Aspekt in ihrem Leben. Etwas, was die Seele, die Gefühle, das Emotionale anspricht, und nicht den Logos. Der hat natürlich auch seine Berechtigung – aber eben nicht ausschliesslich. Dass sich Menschen mehr und mehr für Spiritualität interessieren, und dass ein stärkeres Interesse an Nature Writing und an der Mehr-als-menschlichen Natur gleichzeitig aufkommen, hängt sicherlich zusammen. Vieles ist entdeckt, durchleuchtet, analysiert, gebändigt und gezähmt worden, und wir Menschen brauchen aber eben auch das Wilde und das Unerklärliche. Und was auch ein wichtiger Punkt ist, ist das Thema Kontrolle. Alles soll kontrolliert werden können. Aber diese Kontrolle ist auch eine Illusion. Und obwohl der moderne Mensch in einem Kontrollwahn feststeckt, hat er auch einen unbewußten Drang nach dem Nicht-Kontrollierbaren.

Hauke: Greift ihr auch ein in ein Wissen? Habt ihr eine Zukunftsvision, was sich ändern müsste?

Erstmal weg vom ICH und hin zum WIR. Gemeinschaften aufbauen, toxischen Individualismus hinter uns lassen. Verbindungen eingehen. Es ist gerade eine schöne Reihe an Büchern erschienen, Kinship: Belonging in a World of Relations, fünf Bände, herausgegeben von Gavin Van Horn, Robin Wall Kimmerer und John Hausdoerffer, mit ganz vielen Beitragenden. Es geht um das Thema Kinships, also  Verwandtschaften im erweiterten Sinne. In diese Richtung könnte es gehen, das wäre schön! Ebenfalls von großer Wichtigkeit, und auch ein Grund, warum wir diese Buchhandlung machen: neue Erzählungen und Geschichten anbieten. Geschichten, die neue mögliche Welten eröffnen. Und zeigen, wie wir diese Welt zu einer für alle Lebewesen attraktiven Welt gestalten können. Die weise Schriftstellerin und Erzählungs-Magierin Ursula Le Guin hat in ihrem Essay „The Carrier Bag Theory of Fiction“ die Idee aufgegriffen, dass nicht Speer, Keule, Pfeil, Waffe sondern der Beutel, das Netz, das zusammengerollte Blatt, der Behälter die wichtigste frühmenschliche Erfindung war. „A leaf a gourd a shell a net a bag a sling a sack a bottle a pot a box a container. A holder. A recipient.“ Und Stanley Kubrick falsch lag mit seiner Anfangssequenz für den Film 2001. Wenn wir andere Geschichten erzählen als die von „heldenhaften“ Protagonisten, die mit ihren Waffen töten, verstümmeln, niederwerfen, unterdrücken, dann kommen wir wahrscheinlich raus aus der jetzigen Lage. Wir wollen mit unserem Laden auch diese anderen Geschichten sichtbarer machen. Wie Le Guin sagt, nicht die Geschichten vom Töten, sondern die Geschichten vom Leben. Eine solche Geschichte ist ein Medizinbeutel. Wir sind also auch so eine Art Apotheke. Buchhandlungen sind nicht geistige Tankstellen, sondern geistige Apotheken!

Konstanze & Hauke: Ein schöneres Schlusswort für dieses Interview lässt sich kaum finden. Vielen Dank für dieses Gespräch mit Euch und alles Gute für Euch und den Zabriskie Buchladen.